“Aufruhr” an der HTS

Die alte „Hermann-Tast-Schule“, heute Hotel – „Altes Gymnasium“

Altes Gymnasium

VOR 50 JAHREN

Proteste gegen den autoritären Geist – Als die APO nach Nordfriesland kam

von Professor Thomas Steensen

HUSUM | Die Weihnachtsferien 1969/70 waren an der Hermann-Tast-Schule (HTS) in Husum alles andere als geruhsam. Unerhörtes war vorgefallen. Ähnliches hatte es in der seit mindestens 1527 währenden Geschichte des altehrwürdigen Gymnasiums nie gegeben. Was war geschehen?

Am 19. Dezember 1969 gegen 11.30 Uhr drangen acht Studenten und zwei Studentinnen aus Kiel in das Schulgebäude ein. Sie schubsten die Frau des Hausmeisters beiseite, liefen durch verschiedene Schulräume, öffneten mit lauten Buhrufen die Tür zum Konferenzzimmer und verlangten eine Diskussion. Dort tagte das 40-köpfige Lehrerkollegium. Innerhalb von Sekunden entwickelte sich eine handfeste Schlägerei. Die Studenten wurden aus der Schule vertrieben, nur einer blieb mit zerrissener Hose zurück. Die Lehrer hielten ihn fest, bis die Polizei eintraf.

Schulverweis wegen Schülerzeitung

Die Schulkonferenz wurde nach kurzer Unterbrechung fortgesetzt und fasste mit großer Mehrheit den Beschluss, gegen den die Studenten hatten protestieren wollen: Der 18-jährige Unterprimaner Harald Loft, aufgewachsen in Hockensbüll bei Husum, Sohn eines Amtsinspektors bei der Kreisverwaltung im Schloss vor Husum, wurde von der Schule verwiesen. Man warf ihm vor, in einer Schülerzeitung zwei Lehrer neonazistischer Äußerungen bezichtigt zu haben. Er habe „aus dem Zusammenhang gerissene Zitate im Unterricht mitgeschrieben und diese in einem verleumderischen Artikel verwendet“.

Im November 1969 war in einer „Informationsschrift der sozialistischen Basisgruppe Husum“ mit dem Titel „Basis-Info Nr. 1“ der fragliche Artikel erschienen. Ein Lehrer hatte demnach im Unterricht zum Beispiel erklärt: „Sie müssen nicht so viel denken, sie müssen tun, was ich sage.“ Ein anderer habe die „Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution mit Hitlers „Volksgemeinschaft“ gleichgesetzt. Dazu hieß es, solche Sprüche gäben „die Ex- und Neo-Nazis von sich …, wenn sie der Gedanke an die gute, alte KZ-Zeit überwältigt, in der noch Ruhe und Ordnung herrschte“.

Die Ereignisse am Husumer Gymnasium schlugen hohe Wellen, in der Stadt und weit darüber hinaus. Die Fernsehsendung „Kulturspiegel“ brachte einen kritischen Bericht des aus Husum stammenden NDR-Journalisten Uwe Zimmermann. In den Husumer Nachrichten war vom „explosiven Gehalt“ der Vorgänge an der HTS die Rede. Chefredakteur Helmut Sethe überschrieb einen Leitartikel: „Phantasie statt Autorität“. Ohne direkt auf den Vorfall an der HTS einzugehen, unterstrich er die Bedeutung von Schülerzeitungen, in denen Demokratie eingeübt werde, und meinte, politische Probleme ließen sich nicht durch disziplinarische Maßnahmen erledigen.

Debatte in Leserbriefen

In Leserbriefen wurden die Aussagen Lofts zwar als überzogen kritisiert, noch mehr jedoch der Beschluss, ihn von der Schule zu verweisen. Ein Einsender schrieb, auch er habe unter der „autoritären Einstellung“ von HTS-Lehrern gelitten. Ein anderer meinte, die Schule hätte, anstatt eine Konferenz mit dem Ziel der Relegation einzuberufen, eine Diskussionsstunde veranstalten sollen.

Dieter Schoeneich, seit dem Vorjahr an der Husumer Versöhnungskirche als Pastor tätig, hielt es für „falsch, daß man einen Jungen von der Schule wies, dessen soziales Engagement, auch wenn viele ganz anderer Meinung sein mögen als er, turmhoch über der Gleichgültigkeit der Mehrheit unserer Bevölkerung steht“. Er warnte vor einer Isolierung junger Menschen: „Nur das Aushalten des andern bewahrt uns vor der vollständigen Dehumanisierung, wie sie sich allenthalben ankündigt.“

Der vormalige Schulsprecher der HTS, Hans Dieter Wittmann, verfasste gemeinsam mit seiner Schwester Ute, die Schulsprecherin an der Husumer Theodor-Storm-Schule gewesen war, einen Leserbrief: „Wir sollten froh sein, wenn endlich einmal Schüler (auch wenn sie nicht immer die richtige Form finden), sich mitverantwortlich fühlen, wenn sie das Schulgeschehen einer kritischen Analyse unterziehen und wenn sie endlich einmal das kritische Bewußtsein zeigen, das für eine Demokratie lebensnotwendig ist.“

Autoritärer Geist

Ein Tanzabend, zu dem sich ehemalige Schüler der beiden Husumer Gymnasien zwischen Weihnachten und Neujahr im Parkhotel Thordsen trafen, wurde von der „Sozialistischen Basisgruppe Husum“ und dem „Aktionskreis unabhängiger sozialistischer Schüler“ zu einem Diskussionsabend umfunktioniert. An der Eröffnung der Husumer Universitätswoche Anfang Januar 1970 in der HTS-Aula wollten Schüler und Studenten teilnehmen, wurden aber vom Hausmeister ausgesperrt. Das Kieler Kultusministerium bestätigte bald darauf den Beschluss der Schulkonferenz, Loft von der Schule zu verweisen. Diesem hatte bei nur einer Gegenstimme und einigen Enthaltungen auch der Elternbeirat zugestimmt.

Wer heute mit ehemaligen Schülern spricht, kann erfahren, dass am Husumer Gymnasium, damals noch eine reine Jungenschule mit ausschließlich männlichem Kollegium, wie an vielen Bildungsstätten in Deutschland ein autoritärer Geist verbreitet war. Mancher Studienrat ist als „rechte Socke“ in Erinnerung geblieben. Wenn eine Klasse zu laut war, kam manchmal die Bemerkung: „Wir sind hier keine Judenschule!“ Disziplin, Befehl und Gehorsam, die „Schulzucht“ wurden von vielen Lehrern als hohe Werte vermittelt und möglichst durchgesetzt. „Langhaarige“ – zu ihnen zählte Harald Loft – fanden sie abscheulich. Nur einige Lehrer, genannt wird etwa Dr. Rolf Kuschert, versuchten behutsam, liberale Unterrichtsformen einzuführen.

APO kam in NF an

Die Vorfälle in Husum zeigten, dass die damalige Studentenbewegung in der Außerparlamentarischen Opposition nun auch fernab der Großstädte für radikale Kritik sorgte. Die APO kam in Nordfriesland an. In Husum hatten Schüler der HTS bereits am Volkstrauertag 1968 am Rande der offiziellen Gedenkfeier gegen den Vietnam-Krieg demonstriert. Schüler der Niebüller Friedrich-Paulsen-Schule organisierten 1968 eine Demonstration gegen die Notstandsgesetze der damaligen großen Koalition, nahmen an Protesten gegen die NPD teil und kritisierten bei einem „Sit-in“ den damals eingeführten Numerus Clausus. Im dortigen Schülerheim wurde die als autoritär betrachtete Hausordnung in Frage gestellt. In Wyk wollte ein Primaner eine Aufführung von Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ zu einer revolutionären Rede nutzen, aber die ging in allgemeinem Tumult unter. Auch am Nordsee-Gymnasium in St. Peter-Ording gab es „Aktionen“.

Politisch interessiert oder gar engagiert war indes insgesamt nur eine kleine Minderheit der Schüler. Sie konnten sich in der „Schülermitverantwortung“ (SMV) betätigen, aber dazu hieß es etwa im Jahresbericht 1968/69 des Gymnasiums auf Sylt: „Eine wirklich fruchtbare Arbeit der SMV scheitert immer wieder an der Passivität und an der mangelnden Informationsbereitschaft der Schüler.“ Eine „Aktion“, wie sie an der Husumer HTS für Aufsehen sorgte, war in Nordfriesland auch in APO-Zeiten die Ausnahme.

Und Harald Loft?

Was wurde aus dem von der Schule verwiesenen Harald Loft? Er unterrichtet heute, obwohl eigentlich schon pensioniert, mit 68 Jahren in englischer Sprache Philosophie an der Metropolitan School in Berlin, an der 1000 Schüler aus 52 Nationen lernen. Zuvor war er Studienrat in Hessen, in der Nähe von Heidelberg, an der Internationalen Schule der Vereinten Nationen in New York, in Berlin und an der Europa-Schule in Mailand. Er heiratete und wurde Vater von drei Kindern.

„Husumer bleibt man ein Leben lang, ob man will oder nicht, auch Storm ist ja von Fontane deshalb gescholten worden, aber was mich betrifft: Ich bin es gerne.“Harald Loft heute

Wie konnte er studieren und Lehrer werden? Er ist dafür vor allem seinem Vater dankbar, der ihn rückhaltlos unterstützte, und dem damaligen Direktor der Husumer Theodor-Storm-Schule, Dr. Andreas Reinhardt, der ihm das Abitur an seiner Schule ermöglichte.

Loft erinnert sich daran, dass in der Weihnachtszeit 1969 anonyme Anrufer ihn und seine Eltern beschimpften und bedrohten. Seine Heimatstadt besucht er ab und zu. Er schreibt in einer E-Mail: „Husumer bleibt man ein Leben lang, ob man will oder nicht, auch Storm ist ja von Fontane deshalb gescholten worden, aber was mich betrifft: Ich bin es gerne.“

– Quelle: https://www.shz.de/26731507 ©2019

Aus <https://www.shz.de/lokales/husumer-nachrichten/proteste-gegen-den-autoritaeren-geist-als-die-apo-nach-nordfriesland-kam-id26731507.html>